Kommentar
Was kann die Osteopathie, oder besser: was lässt sich durch eine osteopathische Behandlung
therapeutisch erreichen? Das ist wohl die Kernfrage, die Patienten zuallererst interessiert.
Das ist die Frage, die sich jeder immer wieder stellt und auch stellen sollte, der
als Osteopath praktiziert. Und damit steht diese Frage natürlich auch im Zentrum des
Interesses, wenn es um wissenschaftliche Aktivitäten in diesem Bereich geht.
„Das Überleben der Osteopathie wird auf lange Sicht davon abhängen, ob sie in der
Lage ist, sich selbst als unterschiedlich und gleichzeitig äquivalent zur allopathischen
Medizin zu definieren. Diese Argumentation ist am besten nicht auf theoretischer Ebene
zu führen, sondern indem die Ergebnisse der Behandlung dargestellt werden”, schrieb
dazu z.B. Joel D. Howell in einem Letter im New England Journal of Medicine .
[6]
Da geraten andere, grundsätzlichere Fragen gerne in den Hintergrund (um nicht zu sagen
ins Abseits). Auch ich, das gebe ich zu, bin manchmal in Gefahr, von diesem Virus
infiziert zu sein: schließlich wird mein Teewasser ja auch nicht schneller heiß, wenn
ich weiß, was der Strom im Tauchsieder macht...
Umso wertvoller ist da eine so sorgfältige Grundlagenstudie wie die von Ralf Vogt,
von der er freundlicherweise eine Zusammenfassung für die Leser der DO verfasst hat.
Über die konkrete Fragestellung hinaus lassen sich eine ganze Reihe von Gedanken knüpfen.
Nicht zum ersten Mal stellt eine Analyse der anatomischen Literatur fest, dass „ältere anatomische Autoren weit genauere Beschreibungen lieferten”. Zu Zeiten, als man sich noch nicht so ganz klar war über Zweck und Funktion einzelner
Strukturen, wurden sie eben so komplett wie möglich beschrieben. Sobald man beginnt,
Strukturen durch die Brille eines vordefinierten Modells zu betrachten, blendet unser
Gehirn weitgehend alles aus, was für das Modell „irrelevant” ist (ich kenne das vom
Fotografieren, wenn auf einem Bild immer wieder Dinge erscheinen, die ich selbst nicht
wahrgenommen hatte).
Dann sollten wir bei Beschreibungen anatomischer Strukturen immer vor Augen haben,
dass aus technischen Gründen topografische und funktionelle Anatomie zwei Welten sind.
Fixierte Präparate (und das ist der Normalfall für den Anatomen) erlauben eine einigermaßen
korrekte Lagebeschreibung (falls die Struktur nicht zu sehr durch die Fixierung gelitten
hat oder gar nicht erst als „Struktur” erkannt wurde), lassen aber zur Frage der Funktion
oft nur Spekulationen zu. Und die sind wieder, siehe oben, wesentlich beeinflusst
durch das schon vorab zu-grunde gelegte Modell. Neue Möglichkeiten eröffnen sich da
künftig sicherlich durch die funktionelle Kernspintomografie, Geräte, die schnell
genug sind, Bewegungen unterschiedlicher Strukturen festzuhalten. Nur sind diese Geräte
noch rar, da extrem teuer, und deshalb meist für andere Fragestellungen ausgebucht
als die, die osteopathische Erkenntnisse liefern würden. Bleibt allerdings noch die
Möglichkeit, auf solchen, vorhandenen Aufnahmen die osteopathisch relevanten Strukturen,
ihre Mobilität und Funktion als „Nebenprodukt” zu studieren.
Schließlich hat die Arterie aus osteopathischer Sicht besondere Bedeutung (vgl. Still's
„rule of the artery”). Dabei kommt mir ein Zitat von Dr. James McGovern, dem Präsidenten
der A.T. Still University in Kirksville in den Sinn. Er bestand nach eigenen Angaben,
als er einige Originalschriften von Still, Sutherland und anderen aus seiner historischen
Bibliothek zum Nachdruck freigab auf der Feststellung, „dass diese Bücher aus historischen Gründen neu aufgelegt würden, aber nicht in der
Absicht, als klinische Anleitung zu fungieren”. Und er fügte hinzu: „Unglücklicherweise gehen manche mit diesen Büchern um als wären sie eine religiöse
Quelle der Wahrheit statt alle osteopathischen Erkenntnisse als Befunde zu betrachten,
die einer weiteren Verbesserung durch kontinuierliche empirische Studien bedürfen”. Ralf Vogt nennt einige dieser Erkenntnisse in Bezug auf die Arterie. Tatsächlich
haben Angiologen, Rheologen, Endokrinologen, Kardiologen, Chirurgen, Physiologen und
Pathologen vieles beigesteuert zum besseren Verständnis der Arterie. Was fehlt, ist
die ganzheitliche Betrachtung. Vielleicht bietet sich hier ein spannender moderner
Ansatz für die Osteopathie - zu dem die vorgestellte Arbeit einen bemerkenswerten
Beitrag liefern könnte.
K. L. Resch